Was macht die Digitalisierung mit der Politik?

Open Access Veröffentlicht von De Gruyter Oldenbourg 2022

Welche Rolle spielt Digitalität für die Aushandlung der Frage, wie wir künftig zusammenleben wollen? Wie wirken sich Prozesse der Digitalisierung auf die Meinungsbildung, die Formung politischer Parteien, ihre Kommunikation mit den Wähler*innen, die diskursive Formierung von Themen, die Herstellung von Mehrheiten und deren Regulierung aus?

Der vorliegende Band bietet eine konstruktive Perspektive auf die Herausforderungen einer zunehmend durch Digitalisierung geprägten Gesellschaft. Die Beiträge versammeln neben Diagnosen der gegenwärtigen Lage auch Konzepte und spekulative Zukunftsentwürfe, die das Anliegen einer gerechteren Gesellschaft verbindet.

Expert*innen aus Wissenschaft, Journalismus und Praxis skizzieren zentrale Ergebnisse der zweiten „Dießener Klausur Mensch|Maschine|Zukunft“, die im heutigen, vielfach von kulturkritischen und pessimistischen Perspektiven geprägten Diskurs über Digitalisierung einen Raum für konstruktive Entwürfe, Einwürfe und Provokationen macht.


Self-Writing around 1900 – Fractured Identities in NewYork City

eDiss., Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 2019. http://hdl.handle.net/21.11130/00-1735-0000-0003-C17D-7

Meine Dissertation untersucht die Vielfalt und Uneindeutigkeit urbaner Identitäten in New York City um 1900. Mit einem praxeologischen und transsektionalen Ansatz werden die Praktiken des Schreibens und die damit verbundenen Selbst-Bildungspraktiken von vier Schriftsteller_innen analysiert. Die vier Ausgangsfiguren für meine Analyse sind erstens Ralph Werther, ein Rechtsanwaltsgehilfe, der unter dem Namen Jennie June auch als »Female Impersonator« und »Cross-Dresser« in New York unterwegs war und dies in autoethnographischen Texten im New York Medico-Legal Journal festhielt (1918–1922); zweitens Elizabeth Jane Cochran, die unter ihrem Pseudonym Nellie Bly zu einer der bekanntesten Journalistinnen der vorletzten Jahrhundertwende wurde. Sie imitierte hysterische Frauenkörper, um auf Blackwell Island in das dortige Women’s Lunatic Asylum zu gelangen. Ihr Weg durch New York ins Asylum wurde in zwei Artikeln in der New York World veröffentlicht (1887). Drittens James Weldon Johnson, Diplomat, Komponist, Politiker und Schriftsteller. Er beschrieb in einer fiktiven Autobiographie das Leben eines »Ex-Colored Man« (1912) und dadurch auch die Fiktionalität und Realität der so genannten Color Line in den USA. Viertens der »Self-Government« Reformer und Politiker Richard Ward Greene Welling, der sich nach extensiver Vorbereitung – festgehalten in seinem Tagebuch – auf dem Bradley-Martin Ball (1897) als Miantanamoh, Sachem der Narragansett, verkleidete. Diese vier Schriftsteller_innen erschufen reale und imaginierte Territorien von »New Women«, »Ex-Colored Men«, »Native Americans«, »Androgynes« und »Fairies«. Um die Praktik des Schreibens in Bezug auf die Selbst-Bildungsprozesse zu untersuchen, werden Tagebücher, Romane, Autobiographien, Artikel in Tageszeitungen, Aufsätze in Fachzeitschriften, sowie die Korrespondenzen der Schriftsteller_innen herangezogen. Die in diesen Texten beobachtbaren Selbst-Bildungen stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zu den insbesondere durch medizinische und juridische Diskursfelder hervorgebrachten Subjektpositionen. Die umfassenden politischen, kulturellen und technologischen Veränderungen in New York City um die vorletzte Jahrhundertwende beeinflussten die Selbstbildungspraktiken – aber determinierten diese nicht. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist somit, dass Lesarten der Moderne als stabile, historische Zeitperiode – unter Berücksichtigung der Subjektivierungsprozesse – wenig hilfreich sind. Vielmehr erscheint die Moderne so eher als Feld von Diskontinuitäten denn als ein monolithischer Block – bevölkert von instabilen, zerrissenen und gebrochenen Individuen. Zugleich haben die Schriftsteller_innen in produktiver Art und Weise unterschiedliche Schreibgattungen genutzt und so durch ihre spezifischen Praktiken des Schreibens temporäre Identitäten ausgebildet, verworfen, imitiert, verändert, erfunden und neu justiert. Dadurch wird zugleich eine neue Lesart des Amerikanischen Individualismus um 1900 vorgeschlagen, die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen – insbesondere in Bezug auf die Verhältnisse zwischen Fiktionalität und Realität, Imitation und Authentizität sowie Fakt und Fiktion von Identitätsbildungen – für eine Geschichte der Selbst-Bildungen nutzbar macht. In einer Verbindung von Mikro- und Makrogeschichte werden so nicht nur die dazwischenliegenden Spannungsverhältnisse und Machtbeziehungen deutlich, die die Praktiken des Schreibens und der Selbstbildungsprozesse beeinflussten, sondern wird darüber hinaus die Relevanz der imaginierten Räume und realen Orte für die Stadtgeschichte deutlich.


„First, unshackle ourselves from fear, for it alone is our omnipresent enemy“. Homosexualität in den USA 1948-1963

Berlin, Lit 2012 (Geschlecht – Kultur – Gesellschaft 17); X, 100 S.; brosch., 19,90 €; ISBN 978-3-643-11890-5

Rez.: Klein analysiert die aufkommende homophile Bewegung in den USA und fragt in Anlehnung an Michel Foucault, „in welchem Verhältnis zur Macht […] Angst als Signifikant von sexuellen Diskursen in den 1950er Jahren“ (6) steht. Zwei Thesen liegen der Studie zugrunde: Erstens habe Angst „nicht nur eine repressive, sondern auch produktive Wirkungsmacht entfaltet […], die wesentlich an der Binarisierung der Geschlechter, der Genese eines sexual citizenship, an Subjektivierungsprozessen, das heißt an der Rejustierung einer heteronormativen Matrix in den 1950er Jahren beteiligt“ (3) war. Zweitens geht Klein davon aus, dass „Angst eine relaisartige Funktion als ein Vermittlungselement von Spezialdiskursen besitzt und somit einen Interdiskurs konstituiert“ (5). Der Autor nutzt Michel Foucaults diskursanalytischen Ansatz sowie seine interdiskursive Weiterentwicklung durch Jürgen Link und rückt mit der Mattachine Society und den Daughters of Bilitis zwei homophile Gruppen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, mit denen er sich dem Angstdispositiv nähert. Hierfür bezieht er sowohl Veröffentlichungen der homophilen Gruppen als auch zeitgenössische Dokumente wie etwa populäre Zeitschriften, medizinische Handbücher, Gesetze, Gerichtsurteile und Nachrichtenbeiträge ein. Klein stellt fest, dass Homosexuelle in den USA im Untersuchungszeitraum als gescheiterte Personen angesehen wurden, die – so die Interpretation der zeitgenössischen Diskurse – abweichendes Verhalten zeigten und dadurch eine Gefahr für die USA darstellten. Die Angst und Sorge um den Staat richtete sich somit nicht mehr gegen das kommunistische Außen, sondern gegen das homosexuelle Innen. Durch ständige Wiederholung und Zitation sei Angst zu einem Dispositiv generiert worden, so der Autor, „das sich um das diskursive Schlachtfeld der menschlichen Sexualität legt“ (80).

Ines Weber (IW), M. A., Politikwissenschaftlerin (Kommunikationswissenschaftlerin, Psychologin), wiss. Mitarbeiterin, Institut für Sozialwissenschaften, Christian-Albrechts-Universität Kiel.

Empfohlene Zitierweise: Ines Weber, Rezension zu: Björn Klein: „First, unshackle ourselves from fear, for it alone is our omnipresent enemy“ Berlin: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35757-first-unshackle-ourselves-from-fear-for-it-alone-is-our-omnipresent-enemy_43343, veröffentlicht am 28.03.2013.